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Pflege – Maxi-Job für Mini-Lohn

Zwei Dinge sind knapp bei der Behandlung von Kranken: Zeit und Geld. Die Arbeit wird immer mehr und das Pflegepersonal immer weniger. Das war mal anders. Wie ist es dazu gekommen?

Pflegekräfte genießen in der Gesellschaft keine allzu große Anerkennung, was sich am deutlichsten in der Bezahlung zeigt. "Ich fühle mich nicht wertgeschätzt, sondern ausgenutzt", schrieb kürzlich eine Kollegin. Krankenschwestern und Pfleger ergreifen ihren Beruf, weil sie für Menschen sorgen wollen. Erst in zweiter Linie denken sie an die Bezahlung. In der Entlohnung wird jedoch Wertschätzung ausgedrückt. Die Wertschätzung setzt bisweilen leider erst dann ein, wenn der Krankheitsfall schon eingetreten ist und ist dann nicht finanzieller Natur.

Die Existenz von Krankenhäusern und der dort Arbeitenden benötigt indessen – über Dankbarkeit für gelungene mitmenschliche Begleitung hinaus – schon in gesunden Tagen eine von allen Mitgliedern der Gesellschaft getragene, vorausschauende, solidarische Finanzierung.  Damit ideelle und finanzielle Wertschätzung der Pflege gleichermaßen als gesellschaftliches Ziel angestrebt werden können, ist der erste Schritt aber zunächst einmal zu erkennen, in welch prekärer Situation wir uns eigentlich befinden.

Organisationsfehler auf verschiedenen Ebene

Pflegende stehen vor der Aufgabe, mit oft unplanbaren Situationen kreativ, flexibel, ausdauernd und zeitsparend umzugehen. Zudem soll die häufig in belastenden Situationen lebende und arbeitende Pflegekraft die Wünsche all derer mit einbeziehen, die sich aus welchen Gründen auch immer entschlossen haben, über praktische Aufgaben lieber nachzudenken, anstatt diese am Krankenbett auszuprobieren. Es ist ein gravierender Mangel, dass persönliche Karriere immer wegführt vom Krankenbett. Einzelne Pflegehandlungen können jedoch nicht unabhängig von der Gesamtsituation eines Krankenhauses betrachtet werden. Oft wird die Pflegekraft für etwas verantwortlich gemacht, auf das sie selbst keinen Einfluss hat. So taucht z.B. der allgegenwärtige Zeitmangel in der Bewertung ihrer Leistung auf, anstatt als Organisationsfehler erkannt zu werden. Zeitdruck ist eine Angelegenheit der ganzen Gesellschaft und stellt die Frage nach unserem alltäglichen Umgang mit Zeit und Geld. Ich betrachte es so: Zeitmangel als Organisationsmangel ist vor allem anderen Geldmangel! Zuerst kommt der Kostendruck. Die Forderung nach immer mehr Flexibilität, Schnelligkeit, Belastbarkeit und Kreativität sind Folgen dieses Kostendrucks.

“Ein Sprichwort sagt es: Zeit ist Geld! Damit ist Zeitdruck gleich Kostendruck und Zeitmangel immer Geldmangel.”

Wie sind wir unter diesen Kostendruck geraten? Üblicherweise lautet die Antwort auf diese Frage, das Personal sei zu teuer und die Sozialkosten der Arbeit seien zu hoch. Dieser Logik folgend, wäre ich also selbst für diese Zustände verantwortlich. Ich sollte in mich gehen und auf Lohnerhöhungen verzichten. Ich bin jedoch überzeugt, dass damit überhaupt nichts verändert würde. Um dem Kostendruck auf den Grund zu gehen, ist eine Beschäftigung mit unserem Geldsystem vonnöten. Unser Geldsystem wird als gegeben angesehen und kaum als problematisch wahrgenommen. Dass es mittlerweile an seine Grenzen stößt, ist den meisten Menschen nicht bewusst. Nicht die Sozialsysteme stecken in der Krise, sondern das dahinter wirkende Geldsystem.

Überall fehlt das Geld, warum ist das eigentlich so?

Geld, eine geniale Erfindung der Menschen, erleichtert den Tauschhandel. Es verbindet mich mit anderen Menschen. Es kommt zum Einsatz, wenn Menschen füreinander arbeiten, nur dadurch hat es einen Wert! Geld allein kann nicht arbeiten, selbst wenn Banken, die so werben, es gerne so hätten und die beworbenen Menschen dies nur zu gerne glauben möchten.

Arbeit gibt es genug! So sollte es doch möglich sein, die tauschwilligen Personen mittels Geld zueinander zu bringen. Aber unser Geld hat nicht nur eine verbindende Funktion, sondern wirkt auch trennend. Die trennende Funktion wird sichtbar, wenn Geld als Wertaufbewahrungsmittel gebraucht wird. In diesem Fall landet es auf der "hohen Kante" und wird gegen Zins weiterverliehen. Es ist vor allem der Zinseszinsmechanismus, der für eine ständige Umverteilung von Geld verantwortlich ist. Er spaltet die Gesellschaft in eine arbeitende, zahlende Mehrheit und eine empfangende und besitzende Minderheit. Da alle Zinskosten der Unternehmen in die Preise einkalkuliert werden, müssen sie von allen, die einkaufen gehen, gleichermaßen berappt werden. Der Zinsanteil liegt in Deutschland mittlerweile zwischen 30 und 40 Prozent der Endverbraucherpreise und steigt weiter. Der Kleinsparer zahlt so über die Preise viel mehr Zinsen, als er über das Sparbuch erhält. In Deutschland profitieren nur die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung von diesem System. Sie erhalten den Betrag, den neunzig Prozent über die Preise bezahlen. Täglich fließen so 800 bis 1000 Mill. Euro von der Arbeit zum Besitz. 

Diesen Zuwachs bei den Vermögen gibt es aber nur, weil viele berufstätige Menschen, die ihr Geld für ihren Lebensunterhalt brauchen, täglich an dieser Anhäufung mitarbeiten. Da niemand aus diesem System aussteigen kann, sägen die Arbeitenden an ihrem eigenen Ast. Je länger und je fleißiger sie arbeiten, desto weniger erhalten sie vom Ganzen. Zusammengefasst gilt:

“Hat ein Mensch Geld erhalten ohne dafür gearbeitet zu haben, so hat ein anderer gearbeitet ohne Bezahlung."

Für einen Unternehmer wiederum besteht ein Unterschied zwischen Arbeitskosten und Kapitalkosten. An den Kapitaleigner, vertreten durch die Bank, zahlt der Unternehmer Zinsen, jedoch ohne Sozialabzug. Denn seltsamerweise sind diese leistungslosen Einkommen aus der Arbeit anderer für den Geldverleiher nicht sozialpflichtig. Aus der Zinspflicht gegenüber seinem Geldgeber kann der Unternehmer nicht aussteigen. Daher versucht er, mit weniger oder gar ohne Personal auszukommen. Also werden, weil auf der einen Seite die Kapitalvermögen der Geldverleiher wachsen, auf der anderen Seite Arbeitsplätze eher abgebaut.

Warum ist der Zinsanteil in den Preisen so hoch?

Zinsen wirken deshalb so verheerend, weil sie abhängig von der Höhe des Zinssatzes eine Verdopplungswirkung auf das Kapital haben. Je höher der Zinssatz, desto rasanter verläuft dieser Prozess. Zinsen werden – sofern sie nicht direkt ausgegeben werden – zu Kapital und beziehen sich selbst in dessen Verdopplung mit ein. Eine mit sieben Prozent Zins angelegte Summe verdoppelt sich so alle zehn Jahre. Vermögen wachsen also exponentiell. In dem Buch "Unsere Welt – ein vernetztes System" nennt Frederic Vester ein anschauliches Beispiel für exponentielles Wachstum in einem begrenzten Raum: "Wer kennt nicht die Sache mit den Tag für Tag sich verdoppelnden Teichrosen? Nach fünfzehn Tagen ist der Teich halb bedeckt. Frage: Wann ist er ganz zugewachsen? Natürlich am sechzehnten und nicht am dreißigsten Tag!" Es ist die Frage, wie viele Verdopplungen das System bis zu seinem Einsturz noch verträgt. Zinsanstiege verlaufen schleichend. Die am Anfang flach verlaufende Kurve zeigt zunächst die innewohnende Kraft, die später mit steigender Tendenz zu einem Ausdruck von Gewalt wird. Wir befinden uns längst im Stadium teils offener und struktureller Gewalt. Letztere ist leider schwieriger zu erkennen.

Die Kapitalvermehrung stiehlt uns die Zeit

Aus Zeit wird mit Hilfe des Zinses Geld gemacht! Wie dieser Mechanismus aus Zeit und Geld eine Gesellschaft verändert, hat Michal Ende in seinem Märchenroman "Momo" beschrieben. Im Klappentext heißt es: "Eine gespenstische Gesellschaft ‚Grauer Herren’ ist am Werk und veranlasst immer mehr Menschen Zeit zu sparen. Aber in Wirklichkeit betrügen sie die Menschen um die ersparte Zeit. Doch Zeit ist Leben und das Leben wohnt im Herzen. Je mehr die Menschen daran sparen, desto ärmer, hastiger und kälter wird ihr Dasein und desto fremder werden sie sich selbst.

Pflegeberufe immer unattraktiver

In Deutschland sind fast 1,2 Millionen Personen in den Pflegeberufen tätig. Über 80 Prozent sind examinierte Krankenschwestern/pfleger und Altenpfleger/innen. Jeweils etwa 40 Prozent arbeiten in Krankenhäusern und in Altenund Pflegeheimen. 20 Prozent arbeiten in ambulanten Pflegediensten. Die körperliche und psychische Arbeitsbelastung beim Pflegepersonal hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Mehr schwer Kranke müssen gepflegt werden, die Arbeitsdichte nimmt zu, in vielen Einrichtungen mangelt es an Personal, die wirtschaftlichen Zwänge nehmen zu. Es stellt sich die Frage, wer die Pflegearbeit leisten wird, die in einer immer älter werdenden Gesellschaft erforderlich sein wird, denn sehr viele Pflegekräfte verlassen den Pflegeberuf vorzeitig. Dies wurde auch von der Europäischen Union als ernsthaftes Problem erkannt. Die EU finanzierte darum die Europäische NEXT-Studie (nurses' early exit study). Diese Studie hat gezeigt, dass in Deutschland fast jede fünfte Pflegekraft oft daran denkt, den Beruf aufzugeben. Fast in keinem anderen Land halten so viele das Image ihres Berufes für (sehr) schlecht (51 Prozent). Nur 18 Prozent gehen davon aus, dass sich die gesellschaftliche Anerkennung in den nächsten zehn Jahren verbessern wird.

Zeit hat zwei Qualitäten, die zusammengehören wie Yin und Yang. Die Griechen der Antike nannten die messbare, gleichmäßig verrinnende Zeit Chronos. "Chronometer" blieb uns erhalten, ein anderes Wort für Uhr. Die erlebte Zeit nannten sie "Kairos". Der Inhalt bestimmt das Empfinden und lässt sie schneller oder langsamer vergehen. Patienten wird die Zeit häufig lang, während das Pflegepersonal der Zeit hinterher jagt.

An der schwierigen Situation des Krankenhauspersonals wird sich jedoch nichts ändern, wenn wir uns stillschweigend abmühen, den Mangel zu verwalten, und es aus Zeitmangel vermeiden, über denselben offen zu diskutieren! Leider bezieht sich diese Vermeidungshaltung nicht nur auf die Zeitproblematik. Die schweigende Übereinkunft bezieht das dahinter wirkende Geldsystem mit ein. Die meisten glauben immer noch, dass der Erhalt des Arbeitsplatzes vor allem von persönlichen Fähigkeiten und Eigenschaften abhängig sei. Wenn wir darüber reden würden, welche Pflegetätigkeiten an welchem Tag benötigt werden und welche unterbleiben müssen, würde es uns nicht verborgen bleiben, dass wir in einem rationierten Bereich arbeiten

Bedarf ohne Geld

Der Erfindung des Zeitmangels geht jedoch die Erfindung des Geldmangels voraus. Denn unser Geldsystem trennt, wenn es lange genug wirksam ist, die Arbeit von ihrer gerechten Bezahlung und erzeugt so dauernd "Geld ohne Bedarf" und "Bedarf ohne Geld" (Prof. Dieter Suhr). Vom "Bedarf ohne Geld" und seinen Folgen hören wir täglich in Form von Sozialabbau und Arbeitslosigkeit, Bildungsmisere, Zweiklassenmedizin und Zweiklassenpflege. "Bedarf ohne Geld" führt zur Vergrößerung der Pflegebereiche, vermehrt Fehler durch Übermüdung, macht Überstunden nötig, bedeutet Notstand in Pflegeheimen. Viele Missstände sind schlicht auf Personalund Zeitmangel zurückzuführen.

Geld ohne Bedarf

Das "Geld ohne Bedarf" wird an der Börse gehandelt, bewirkt Privatisierungen, fördert zu große Klärwerke, unnötigen Straßenbau usw. Es ist systemgemäß sehr wohl erwünscht, dass das überreichlich vorhandene "Geld ohne Bedarf" seine Verzinsung verlangt. Als Verschuldung muss es in den Geldkreislauf zurückkehren, zwingt uns alle dienstbar zu sein, die wir unseren Lebensunterhalt mit Arbeit verdienen müssen. Denn wachsen die Vermögen, so erhöhen sich die Schulden spiegelbildlich um genau den gleichen Betrag.

Der Finanzminister hat eine Aufgabe, um die er nicht zu beneiden ist. Helmut Creutz schreibt in seinem Buch "Das Geldsyndrom": "Da die zinsfordernden Sachund Geldvermögen deutlich rascher zunehmen als die volkswirtschaftliche Leistung und die Staatseinnahmen, ist auch der sozialste Staat immer weniger in der Lage, die zinsstrombedingten Umverteilungen von Arm zu Reich durch steuerfinanzierte Rückverteilung auszugleichen." Ist auf diesem Hintergrund eine Steuerund Wachstumsdebatte überhaupt möglich? Auch Steuern sind gespalten, vermehren das "Geld ohne Bedarf", da die gemeinsamen Schuldzinsen bezahlt werden müssen.

Aus dem Gesamtsystem aussteigen kann niemand. Jeder befindet sich irgendwo, eine zunehmende Anzahl von Menschen beim Bedarf ohne Geld. Menschen mit wenig Geld sind angewiesen auf die sozialversicherungsrechtliche Seite des sozialen Netzes, welches keineswegs einer Hängematte gleicht.

Die Beiträge zur Krankenund Rentenversicherung sind Lohnprozente bis zur Beitragsbemessungsgrenze. Sie sind damit an den Faktor Arbeit gekoppelt und machen diesen vergleichsweise teuer. Die Beitragsbemessungsgrenze markiert in unserer parzellierten Gesellschaft die Grenze zu den Besserverdienenden, die damit aus der gesetzlichen Krankenversicherungspflicht zugunsten einer Privatversicherung ausscheiden dürfen. Selbst Millionäre können aber auch zu den Tarifen der gesetzlichen Krankenversicherung Gesundheitsdienste in Anspruch nehmen, denn Einkünfte über der Beitragsbemessungsgrenze führen nicht zu höheren Beiträgen. Kapitalerträge bleiben unberücksichtigt. Das mag richtig gewesen sein in der Zeit, als die Bundesrepublik noch jung war, denn anfangs gab es wenig Kapitalertrag. Heute allerdings ist es eine schreiende Ungerechtigkeit.

Von der Arbeit zum Besitz ...

In dem Buch "Vision eines regionalen Aufbruchs" ist u. a. die Verfassungsbeschwerde von Dr. med. Dieter Petschow nachzulesen. Auf Seite 196 heißt es dort, dass "1970 noch fünfundsiebzig Prozent des Arbeitsertrages für die Arbeitswelt zur Verfügung standen, nimmt man fünfundsechzig Prozent effektiven Lohn und zehn Prozent Nettosteuern zusammen; fünfundzwanzig Prozent waren leistungslose Einkommen, aufgeteilt in zwei Drittel (17%) für das Sozialbudget und ein Drittel (7%) für Kapitaleigner. Im Jahre 2002 teilen sich Staat und Arbeitswelt nur noch sechzig Prozent der Erträge; vierzig Prozent sind leistungslose Einkommen, wovon drei Fünftel an wenige Eigentümer, zwei Fünftel an alle sozial Berechtigten gehen. Die Anzahl der Eigentümer hat abgenommen, die Zahl der sozial Berechtigten hat massiv zugenommen.

Das Schweigen brechen

Und wohin führen diese Auswirkungen des Geldsystems, die wir bewusst oder unbewusst unterstützen? Dass unter den Bedingungen des herrschenden Systems langfristig eine gleichmäßig gute Arbeit geleistet werden kann, ist sehr zu bezweifeln. Betroffen hiervon sind nicht allein die Pflegeberufe, sondern alle Beschäftigten.

Anstatt der Situation ins Auge zu sehen, treibt man die Arbeitenden überall in ein ruinöses Hamsterrad, in dem alle gegen alle kämpfen. Wir haben alle Hände voll zu tun, dafür ist im Übermaß gesorgt. Zum Denken soll keine Zeit bleiben. Doch indem wir nur schweigend unserer Aufgabe nachkommen, unterstützen wir ein menschenunwürdiges System.

Die verständliche Wut der Beschäftigten über ihre unbefriedigende Arbeitssituation sollte öffentlich geäußert werden. Eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen kann nur erreicht werden, wenn sich an deren Grundlage, dem ungerechten Geldund Wirtschaftssystem, etwas ändert.

 

Literatur:
J. Sikora, G. Hoffmann: Vision eines "Regionalen Aufbruchs". Mit einer Verfassungsbeschwerde von Dr. Dieter Petschow und einem Brief an den Papst Benedikt XVI. von Heiko Kastner. KSI 2005, 214 Seiten, ISBN 3-927566-35-7. Frederic Vester: Unsere Welt – ein vernetztes System. dtv Sachbuch, 8. Auflage

 

Beate Petschow, arbeitet seit etwa vierzig Jahren als Krankenschwester, zehn Jahre da von war sie als Lehrerin für Pflegeberufe tätig.